Am Beispiel des Hummers

Hummer wollte ich immer schon einmal essen, aber es ist nie dazu gekommen. Mal schien er mir unerschwinglich teuer, mal hielt ich es für dekadent und deshalb ablehnenswert. Dann wieder wusste ich nicht, wie die Scheren fachgerecht geknackt werden müssen, um ohne öffentliche Blamage an das eiweißreiche Fleisch zu kommen. Jetzt habe ich David Foster Wallaces kurze Reportage über das Maine Lobster Festival gelesen und dadurch miterlebt, wie 25.000 Pfund fangfrischer Hummer in die Mägen von mehr als 100.000 Besuchern wandern. Ja, und irgendwie ist mir dadurch der Appetit auf die mit Furcht erregenden Zangen bewaffneten Krebstiere gründlich vergangen.

Dabei kommt der Text, ursprünglich für ein Gourmet-Journal geschrieben, wie ein Appetithäppchen daher: Wallace, Großmeister der Reportage, besucht das traditionelle Hummerfestival und beschreibt, was dort geboten wird. Tonnenweise Hummer wird direkt vom Kutter in den größten Hummerkessel der Welt geworfen und in kochendem Wasser gesotten, um dann im großen Fest- und Fresszelt von entfesselten Schlemmern verzehrt zu werden. Kochwettbewerb, Rummelplatz, Schönheitswettbewerb und Souvenirparaden bilden das Rahmenprogramm, mit dem der US-Bundesstaat Maine als weltgrößter Hummerlandeplatz punktet.

Der Leser erfährt, dass Hummer noch im 19. Jahrhundert als Dreckfraß galt, der zur Gefangenensättigung genutzt wurde. Denn der Hummer als alles vertilgender Müllschlucker des Meeres genoss den Status der Ratte, und derartiges Zeug war für den verurteilten Abschaum der Gesellschaft gerade gut genug. Inzwischen hat sich das grundlegend gewandelt, das aromatische weiße Fleisch der Krebstiere gilt als Delikatesse, das in seinen Rang als Luxusgut allenfalls dem Kaviar den Vorrang lassen muss. Das hat vielleicht auch mit der Zubereitungsart zu tun, denn zu Vorväters Zeiten wurden die Tiere komplett zermahlen und an die Sträflinge verfüttert. Hier setzt das Lobster Festival an, mit dem der US-Bundesstaat Maine Werbung für ein Produkt macht, das ihm die Natur quasi direkt auf den Tisch spült. Denn an keinem anderen Ort der Erde tummeln sich derartig viele Hummer.

Und genau über dieses Festival schreibt Wallace, ohne die Massenfütterung zu loben. Im Gegenteil: er schafft es, den Leser sanft an sein Thema heran zu führen, er begleitet ihn durch die schmatzenden Massen des Mega-Events, und er prüft – durch und durch Journalist – auch die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft in Bezug auf Nerven und Schmerz der Hummer. Nach der Lektüre des zu einem schmalen Büchlein aufgeblasenen Textes bleibt dem Leser der Hummer dann aber im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken.

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Mehr über den Autor:
David Foster Wallace: Freitod mit 46


Genre: Reportagen
Illustrated by Arche Zürich

Bitterstoffe

Der schüchterne Hobbydichter Felix liebt die selbstbewusste, zwei Jahre ältere Julia. Doch Julia bevorzugt Georg. Georg ist der Freund von Felix und war mit der langen, dünnen Annemarie zusammen. Julia wiederum ist mit der von Lithium aufgedunsenen Susanne befreundet. Dann gibt es noch Daniel, Franz, Sonja, Jesse und Anja, deren Verhältnis derjenige kennt, der sich durch den Beziehungsgeflechtsroman »Bitterstoffe« gebissen hat.

Die Protagonisten treffen jedenfalls nach fünfzehnjähriger Abstinenz bei der Beerdigung von Annemarie zusammen und der Ich-Erzähler Felix erinnert sich an das erste Mädchen, mit der er geschlafen hat, an Julia. Auch Julia erinnert sich an den schalen Geschmack der ersten Liebe und schläft, ebenso freudlos wie in der Jugendzeit, erneut mit Felix und dann – etwas intensiver – mit Georg. Die Jugendfreunde trennen sich nach der Beerdigung wieder und gehen ihrer Wege. Felix treibt es jedoch bald darauf von Berlin nach Hamburg, und er besucht Julia. Doch die ist bereits wieder mit Georg beschäftigt, Felix kommt ungünstig und kehrt wieder heim. Seiner Affenliebe zu Julia tut dies keinen Abbruch.

Florian Voß erzählt die Geschichte seiner ersten Beziehungskiste mit verquaster Distanziertheit. Nach 27 Seiten wechselt er jäh die Perspektive und benennt einen Felix, der als sein Alter Ego neben Julia erwachen darf. Es braucht allerdings Zeit, bis sich der Leser sicher sein darf, dass dieser Felix auch der Ich-Erzähler ist. Diesen Wechsel der Erzählperspektive wiederholt er, um auch aus Julias Sicht das Verhältnis zu dem schüchternen jungen Mann zu schildern. Weiter aufgepeppt wird die an sich unscheinbare Geschichte einer sich wieder begegnenden Jugendliebe, indem der Autor häufig Zeitsprünge vornimmt und den Leser zum Zurückblättern zwingt. Klingelt auf Seite 58 das Telefon, wurde das entsprechende Gespräch bereits zehn Seiten zuvor geführt. Schleppt Julia Felix auf Seite 74 zum Erinnerungsfick ins das nächste Gebüsch, hat der Leser bereits Seiten zuvor den jungen Mann begleitet, der sich abschleppen lässt.

Diese an sich reizvolle Methode, beide Parteien zu Wort kommen zu lassen, wirkt in der leidenschaftslosen Erzählung angestrengt und artifiziell. Eingebettet ist sie zudem in eine Hommage an den Großvater des Autors, an dessen Einäscherung der Leser gleich im Einstieg des Werkes teilnehmen darf, die aber mit dem Handlungsstrang selbst wenig zu tun hat. Dem Roman-Debut des Herbstes aus dem Rotbuch-Verlag hätte ein klein wenig mehr Farbigkeit, ein wenig Empathie, und ein Hauch jenes Knisterns, der Beziehungen bisweilen eigen sein soll, gut getan.


Genre: Romane
Illustrated by Rotbuch

Die Hunde bellen

Truman Capote verzichtete bewusst auf die üblichen Reporterutensilien wie Tonband oder Diktiergerät, er nutzte nicht einmal Stift und Papier bei seinen Interviews. Der Autor setzte lediglich sein Hirn als Speichermedium ein, weil er der Überzeugung war, nur so eine natürliche Beziehung zwischen den Interviewpartnern (dem nervösen Kolibri und dem Vogelfänger, wie er es nannte) herstellen zu können. Die Ergebnisse dieser Arbeitsmethode lässt sich jetzt in geballter Form in seinen gesammelten Reportagen und Porträts nachlesen, und ich gestehe neidlos: Capotes Texte sind gnadenlos gut.

Eingeleitet wird der voluminöse Band nicht-fiktionaler Texte von Capotes umfangreichem Konversationsporträt des exzentrischen Schauspielers Marlon Brando, den er in einem Hotel in Kyoto während der Dreharbeiten zum Liebesmelodram »Sayonara« besuchte. Er schildert den Charakterdarsteller als »Fürst in seinem Reich« und nutzt Brando zugleich als Versuchskaninchen, um eine neue Art des journalistischen Schreibens auszuloten.

Capotes Ansatz lautete, eine Reportage ebenso anspruchsvoll zu schreiben wie jede andere Art Prosa, sei es Essay, Kurzgeschichte oder Roman. Im Erscheinungsjahr 1956 war das ein Wagnis, und Capote schildert den Ausgangspunkt seiner Überlegungen: »Was ist die niederste Stufe des Journalismus? Anders gefragt, welcher Dreck lässt sich am schwersten zu Geld machen? Antwort, ganz klar: Interviews mit Hollywood-Stars, dieses unerträgliche Promi-Gelaber … So etwas zur Kunst zu erheben, wäre eine echte Aufgabe.«

Capote gelang mehr als das: seine journalistischen Texte lesen sich wie Literatur und wurden zu einer eigenen Kunstform. Seine Reportagen und Porträts sind Kampfansagen an eine zunehmend unverständliche Sprache der so genannten Hochliteratur, die sich auf rein formale Spielereien und auf die Vernachlässigung der Alltagsstoffe kapriziert. »Schlicht sollen sie sein, meine Sätze, und klar wie ein Gebirgsbach«, lautete sein sprachliches Credo, während er bei seinem Stil besonderen Wert legte auf die Gestaltung »statischer« Textteile, mit denen er seinen jeweiligen Gesprächspartner und die Stimmung des Interviews herausarbeitete.

Eine gewalttätig knisternde Spannung liegt auf seinem Gespräch mit Robert Beausoleil, einem Dauergast im Hochsicherheitstrakt von San Quentin in Kalifornien. Der Leser spürt unmittelbar den mörderischen Atem der wohl schillerndsten Gestalt aus der Charles-Manson-Sekte, der sich im Gefängnis zum Anführer der faschistischen »Arischen Bruderschaft« erhob.

Ganz anders und nahezu beschwingt schilderte Capote das Tagewerk der Mary Sanchez. Er begleitet die Putzfrau auf ihren Einsatzorten in New York und erfährt dabei enorm viel über sie wie über die Bewohner der Appartements, die sie putzt. Sanchez erträgt ihre Arbeit als Putzteufel, indem sie immer wieder zu einer kleinen Blechschachtel greift, in der sich eine Ansammlung von Jointkippen befindet. Irgendwann gelingt es ihr, Capote zum Mitrauchen zu animieren und darauf bekommt die Story einen wundervoll leichten, geradezu bekifften Touch.

In »Versteckte Gärten« wiederum beschäftigt sich Capote in einer Art Selbstgespräch mit seiner Heimatstadt New Orleans. Dazu setzt er sich an einem prachtvollen Frühlingstag in einen uralt gewachsenen Park und reflektiert, was er dort sieht und erlebt. In einem der Gespräche, die der Wind an sein Ohr trägt, streitet sich ein Zuhälter mit einer Frau, die für ihn anschafft, und es wäre kein Text von Capote, wenn die Dame nicht am Schluss der Geschichte wie zufällig vorbei kommt und ihn anspricht.

Wer sich für journalistische Sprache und Stil interessiert, der wird von Capote vorzüglich bedient. Der am 30. September 1924 in New Orleans geborene Autor steht für den »New Journalism«, zu dessen Wegbereitern auch Tom Wolfe, Hunter S. Thompson und Norman Mailer zählen. Sein 1958 veröffentlichtes »Frühstück bei Tiffany« erlangte auch dank der Verfilmung mit Audrey Hepburn große Berühmtheit. Capote begründete 1965 mit seinem Welterfolg »Kaltblütig«, der exakten Aufarbeitung eines blutigen Mordes an einer Farmerfamilie, sogar eine neues Genre: den Tatsachenroman. Truman Capote starb am 25. August 1984 in Los Angeles.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Reportagen
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Holzfällen

Cover Bernhard HolzfällenThomas Bernhards Roman »Holzfällen« war kaum erschienen, das wurde das Buch in Österreich am 29. August 1984 gerichtlich beschlagnahmt und verboten. Der in dem Text angeblich dargestellte Komponist Lampersberg und seine Frau, die Sängerin Maja Lampersberg, meinten sich in dem Werk wieder zu erkennen und hatte die Klage ausgelöst. Erst im Februar 1985 konnte eine außergerichtliche Einigung erzielt werden, die Klage wurde zurückgezogen und der »Schlüsselroman« wieder freigegeben. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Wer stiehlt schon Unterschenkel?

Prokop erzählt im Prolog seines Werkes, wie er in der Skybar eines Chicagoer Wolkenkratzers Bekanntschaft mit einem eitlen, arroganten und versnobten Zwerg namens Timothy Truckle schließt. Die äußerst trinkfeste Attraktion der Bar gilt als der beste Detektiv der Vereinigten Staaten. Mittels glänzender Kombinationsgabe, gut informierter Freunde und einem mächtigen Elektronengehirn namens Napoleon löst »Tiny« Truckle schwierigste Kriminalfälle.

Der Autor schildert darauf einige dieser Fälle, die dem Leser höchst seltsam anmuten. Warum werden zur Transplantation vorbereitete Unterschenkel gestohlen und wieder zurückgegeben? Wieso verschwinden auf mysteriöse Weise Eisberge, die zur Trinkwasserversorgung der USA aus dem Eismeer herangeschleppt werden? Wer hat zwei Mitglieder des aus den einflussreichsten Pharmabossen bestehenden »Clubs der Unsterblichen« ermordet?

In der Auflösung der Fälle wird deutlich, dass Truckle in einer Welt ermittelt, die einer totalen Überwachung durch Staatsorgane unterliegt, denen kein Schritt und kein Gedanke der Bürger entgeht. Es ist eine Gesellschaft, in der übermächtige Konzerne alles und jeden beherrschen und dem Einzelnen keinerlei Freiraum geschenkt wird. Es herrscht Mangel an Trinkwasser und Grundnahrungsmitteln, die Städte sind von einer undurchdringlichen Smogschicht bedeckt, und zum Betrachten eines Sonnenuntergangs müssen die Bewohner in Skybars gehen, die viele tausend Stockwerke hoch über den Wolken liegen.

Truckle, der Held der Erzählungen, arbeitet offiziell für die Mächtigen und hilft zugleich einer Untergrundbewegung, von der in Andeutungen die Rede ist. Dabei schützt ihn ein Mausoleum, das er den staatlichen Gewalten aufgrund seiner kriminalistischen Erfolge abgetrotzt hat, und in dem er ohne fremde Ohren und »Elektronenaugen« sprechen und arbeiten kann. In diesem abhörsicheren Raum nimmt er Kontakt mit dem »Großen Bruder« auf, der ihm Zugang zu den Rechnersystemen des Staatsapparates verschafft. Dieser steht jedoch, anders als in Orwells Roman »1984«, der Prokop Pate gestanden hat, auf der Seite der Systemkritiker und symbolisiert nicht die Macht des Bösen.

»Wer stiehlt schon Unterschenkel« rangiert aufgrund seiner in der Zukunft spielenden Handlung als Science-Fiction-Literatur. Fortgesetzt wurden die Erzählungen um den zwergenhaften Meisterdetektiv in »Der Samenbankraub«. Es handelt sich dabei um eine Dystopie oder Anti-Utopie. Damit werden Geschichten bezeichnet, die in einer fiktiven Gesellschaft spielen, die sich zum Negativen entwickelt hat. Die Erzählungen waren in der DDR vor allem unter kritischen Geistern bekannt, und auch als Sciene-Fiction-Autor genoss Prokop im östlichen Deutschland einen guten Ruf. Außerdem hat der Autor eine ganze Generation DDR-Kinder und Jugendliche fasziniert und mit geprägt. Sein Kinderbuch »Detektiv Pinky« gilt als Klassiker der DDR-Kinderbuchliteratur und wird heute noch gern erinnert. 2001 wurde es sogar verfilmt.

Prokops Erzählungen um Timothy Truckle können als Kritik an den übermächtigen USA verstanden werden. Möglich ist aber auch die Deutung als eulenspiegelhaftes Schmunzeln über die Verhältnisse im eigenen Land, denn auch die DDR trug ausgeprägte Züge eines Überwachungsstaates. Gerade die Form der Zukunftsliteratur bot sich an, auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hinzuweisen und diese kritisch zu beleuchten. 1977 erstmals veröffentlicht wirkt manches auf den heutigen Leser im Zuge der Entwicklung der letzten 40 Jahre allerdings technisch überholt. Ungeachtet dessen ist die Lektüre vergnüglich. Im Westen blieb Gert Prokop, der anno 1994 im Alter von 61 Jahren freiwillig aus dem Leben schied, weithin unbekannt.


Genre: Science-fiction
Illustrated by Das Neue Berlin Berlin

Wie man berühmte Menschen trifft

Den ersten »berühmten Menschen«, den ich in grauer Vorzeit als angehender Journalist interviewen sollte, war ein Filmstar. Ich kannte ihn nicht. Ich hatte seinen Namen nie zuvor gehört, obwohl er doch so unerhört berühmt sein sollte, dass ich eigens nach Berlin zu einem Filmset geschickt wurde, um ihm ein paar Antworten abzuluchsen. Das Internet war in jener undenkbar lang zurück liegenden Zeit noch nicht erfunden, sonst hätte ich den Namen flink gegoogelt und wäre schlauer gewesen. Ich hätte mir auch ein Foto meines Interviewpartners anschauen können, und so wäre mir die erste Peinlichkeit erspart geblieben. Denn ausgerechnet den ersten Typen, der auf dem Set gelangweilt herumstand, fragte ich nach jener Berühmtheit, und ich möchte nicht wissen, was er von mir gedacht hat, als er sich als jener ach so gefragte Promi zu erkennen gab.

Immerhin hatte ich damit meinen ersten Promi im Interview, und ich kam auch leidlich zurecht, weil der Superstar hilfsbereit war und mein Unwissenheit mit mitleidigem Augenaufschlag hinnahm. Gay Talese, der Monate lang Frank Sinatra verfolgte, aber nicht vorgelassen wurde, hatte es da weitaus schwerer. Dafür hat er uns einer der besten Profilreportagen aller Zeiten hinterlassen. Sein Meisterwerk »Frank Sinatra ist erkältet« porträtiert den interviewunwilligen Superstar, ohne mit ihm auch nur ein Wort gewechselt zu haben, aus der Sicht des ihn begleitenden Tross.

Der Schweizer Kolumnist Mark van Huisseling kultivierte seinerseits die persönliche Art des Umgehens mit Berühmtheiten, über die er schreiben sollte. Er durchbrach das klassische Interview, indem er seine Gesprächspartner fragte, worüber sie selbst gern reden wollten. Dabei verstand er die oft bizarren Rahmenbedingungen, unter denen die Interviews stattfanden, als Lösung für seine Arbeit. Statt sich auf die konventionellen Frage-Antwort-Spielchen einzulassen, die zudem meist noch von Zerberussen der jeweiligen PR-Abteilungen überwacht und zensiert werden, erzählt er, was sich am Rande ereignet. Er stellt niemanden bloß, das überlässt er den Befragten selbst. Die floskelhafte Leere, die Pseudo-Promis, Stars und Sternchen umgibt, enthüllt sich damit von ganz allein.

Im Ergebnis schuf er Porträtminiaturen, die den Interviewten bisweilen in einem nicht unbedingt vorteilhaften Licht erscheinen lassen. Auf die Frage, welches Buch sie zuletzt gelesen habe, antwortet Verona Pooth, es seien einige von Homo Faber gewesen … Die dünne Oberfläche, auf der sich derartige Interviews bewegen, lassen damit durchaus tiefe Einblicke zu. Sein Spaziergang durch den Zoo der Alphatiere führt vom Avantgardekünstler Blixa Bargeld (»Wo sind wir heut losgefahren? Ach, Paris!« )über den professionell dauergutgelaunten Roberto Blanco (»Ich bin kein Spaßmacher, ich bin kein Clown. Ich bin Entertainer, ich will unterhalten«) und Pierre »Winnetou« Brice (»Die Helden von heute sind schwule Apachen, rosa gekleidet«) zu Dolly »Ballonbusen« Buster (»Wie lauten die Titel der letzten drei Filme, die Sie produzierten?« – »Ich kann mich nicht erinnern«).

Viereinhalb Stunden muss der Reporter auf Mariah Carey warten, die sich einen Fingernagel abgebrochen hat und ihm dann ihre nackten, langen Beine entgegen streckt (»Ich möchte weniger planen – Planen ist für die Armen«). Rocksänger Joe Cocker überrascht ihn mit dem Geständnis, von Hitler fasziniert zu sein (»Dieses Nazi-Ding war irgendwie umwerfend, von der Ideologie mal abgesehen«). Sarah Connor, die Pop-Prinzessin aus Delmenhorst, wird von einem albanischen Elitesoldaten gemanagt, und will nur über Oberbekleidung statt über Unterwäsche, für die sie wirbt, sprechen. Rolf Eden, Berlins ältester Playboy, bestreitet, Viagra zu nehmen (»Feministinnen – Wenn ich mit denen fertig bin, sind sie bloß noch feminin«).

Mark van Huisseling vertextet seine Interviews und reichert sie mit markigen Zitaten aus der Boulevardpresse an, die sein Gegenüber charakterisieren und spiegeln. Dabei zeichnet er sich durch einen extensiven Gebrauch von Zitaten in Klammern aus, es sind wohl dutzende pro Artikel. Seine Texte lesen sich unterhaltsam und beschwingt, er weicht positiv vom Klischee des Society-Reporters ab. Aber die Texte erschienen ursprünglich ja auch in der liberalen Schweizer »Weltwoche« und nicht in der Klatschpresse. Van Huisselings Interviews sind um ein Vielfaches besser als das Zeug, das ich in meinen Anfangsjahren zusammen dichtete. Gay Talese kann er hingegen nicht das Wasser reichen.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kolumnen
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin

In darkest Leipzig

Als der Autor anno 2004 für ein studienbegleitendes Praktikum nach Tansania aufbrach, vermutete der angehende Ethnologe noch, dass Fremdartigkeit und Exotik in anderen Kulturen beheimatet wären, und er mit jedem Flugkilometer diesem Phänomen näher kommen könnte. Doch nicht in der Weite des schwarzen Kontinents stieß er auf das Gesuchte. Die Fremde wartete vielmehr nach seiner Rückkehr direkt vor seiner Wohnungstür in Leipzig-Lindenau.

Lindenau ist ein Stadtteil im Westen der sächsischen Stadt Leipzig. Hervorgegangen aus einem vor rund 1000 Jahren von deutschen Bauern gegründeten Dorf entwickelte sich der Ort zu einer prosperierenden Industriegemeinde. Mit der Wende brach die Industrieproduktion zusammen, der Stadtteil zerfiel. Heute ist er von Industriebrachen und hoher Arbeitslosigkeit geprägt. In diesen Teil Leipzig verschlug es den jungen Ethnologen.

Während der Autor die Nächte dafür verwendete, die dunkle Romantik in den Ruinen von Lindenau aufzusuchen, war er tagsüber damit beschäftigt, die seltsamen Menschen zu beobachten, die den Gestalten mancher Albträume nicht unähnlich sahen. Es schien ihm, als trügen viele Bewohner eine dämonische Kraft in ihrem Innersten, etwas Böswilliges, Verbittertes. Etwas, das versuchte, die Träume derer, die noch an den Zauber der Welt glaubten, in der Bitternis der eigenen Unzufriedenheit zu ertränken. Horden von Säufern mit üblen Knasttattoos und fettigen Haaren lungerten auf den Straßen. Ihre aschbleichen Gesichtszüge mit den blutunterlaufenen Augen erschienen wie die Überreste einer fremdartigen Kriegbemalung für einen Feldzug, der schon lange verloren war.

Als Ergebnis seiner zwölfmonatigen Feldforschung liefert Schweßinger einen ethnografischen Bericht, der den Leser staunen macht. Denn die Lindenauer scheinen um ein Vielfaches exotischer als die Menschen im tiefsten Afrika. Er meint sogar, die Wilden, für die manche Afrikaner gern gehalten werden, seien eher in den Straßen Lindaus anzutreffen als in den Weiten des schwarzen Kontinents und schildert zum Beweis die Bewohner mit ihren bizarren Gesichtern und unbekannten Sitten.

Es sind Expeditionen in die Leipziger Finsternis, die den Leser des Buches erwarten. Nach der Lektüre der Schilderungen des begeisterten Ethnologen ist eines klar: Wanderer, kommst du nach Leipzig, meide Lindenau! Denn dieser Stadtteil ist keine Reise wert.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Edition PaperONE Leipzig

Neulich in Neukölln

Uli Hannemann zog 1985 nach Berlin und landete ausgerechnet im tiefsten Neukölln. In herrlichen Wortbildern beschreibt er den Alltag in seinem Kiez mit distanziertem Wohlwollen und versprüht dabei rabenschwarzen Humor.

Der schreibende Taxifahrer und Lesebühnenmatador erzählt die Geschichte eines neureichen Münchener Neumieters, den er am offenen Fenster beim Telefonieren abhört, während dessen Kätzchen erstmals das Terrain erkundet und sogleich von fetten Ratten in mundgerechte Häppchen zerlegt wird. Er schildert die strahlende Wiedergeburt des Tante-Emma-Ladens als Onkel-Mehmet-Gemischtwarenhandel, bei dem es rund um die Uhr alles und nichts zu kaufen gibt. In seinem Argwohn gegen den Staat, der nichts ist als »ein schlampiger, alter Kumpel, der sich Bücher, Videos und Geld leiht und niemals zurückgibt«, spricht er dem Neuköllner aus dem Herzen, der in diesem Punkt zum gemeinsamen Widerstand findet.

In seinen Notizen von der Talsohle des Lebens skizziert Hannemann seine Mitmenschen als Alkoholiker, Schreihälse, Schläger, Krachmacher und Drogendealer, die ihn umzingelt haben.

Keinesfalls darf das Thema Hundekot fehlen, denn wer einmal in Pitbull-Scheiße getreten ist, weiß, dass er in Berlin-Neukölln unterwegs ist. Dort verhüllt die Kotschicht das öffentliche Straßenland zeitweise so flächendeckend, dass es für Rettungs-, Reinigungs- oder ähnlich verantwortliche Kräfte nahezu unmöglich ist, überhaupt in die Gegend vorzudringen. Die »Tretminendichte« in Neukölln sei die höchste von ganz Deutschland, konstatiert der Autor; gerade das Gebiet zwischen Hermannstraße und Flughafen Tempelhof sei zur buchstäblichen »No-Go-Area« geworden. Lediglich die Erfindung einer »Schlorkmaschine«, mit der die Haufen gezielt aufgesaugt werden können, schlügen Schneisen in das Grauen und verhinderten, den wohl anrüchigsten Kiez Deutschlands in letzter Sekunde vor der Vernichtung und dem Vergessen zu bewahren.

»Neulich in Neukölln« ist eine spröde Liebeserklärung an den Bezirk, der mit Rütli-Schule, Ehrenmorden, Hundekot und Unterschicht verknüpft ist. Es sind mit Biss und anarchischem Humor gefertigte Momentaufnahmen vom Alltagswahnsinn einer deutschen Innenstadt.


Genre: Kolumnen
Illustrated by Ullstein Berlin

Das Mädchen, das sterben sollte

Auf dem Filmset von Megastar Thomas Bayne in der libyschen Wüste geht eine Bombe hoch und tötet fast hundert Leute. Die Welt hält 99 Minuten lang den Atem an, bis feststeht, dass Bayne nicht zu den Getöteten zählt. Während dessen sucht die 28jährige Fremdenführerin Susan Mantle eine Wahrsagerin, Dawn Sage, auf, mit der sie in einem Haus wohnt. Von ihr will sie wissen, ob ihr neuer Freund der Richtige für sie ist. Doch die Prophezeiung der geheimnisvollen Seherin wirft sie aus der Bahn. »Sie werden berühmt. Sie werden reich. Sie werden über Erde und Wasser reisen. Sie werden einem großen dunklen Fremden begegnen. Sie werden Nein zu ihm sagen bis zu dem Tag, an dem Sie Ja sagen. Am Tag darauf werden Sie sterben.«

Völlig verwirrt stolpert Susan aus der Höhle der Wahrsagerin und läuft tränenüberströmt einem Fernsehteam in die Arme, das Stellungnahmen zu dem Attentat sammelt. »Dem Tod wird kein Reich mehr bleiben«, stammelt sie unter dem Eindruck der Nachricht vom bevor stehenden eigenen Tod weinend in die Kamera, ohne zu wissen, worum es den Interviewern überhaupt geht. Die mysteriöse Stellungnahme gelangt in die Nachrichten und wird dort immer wieder gezeigt. Bald ist Susan »das geheimnisvolle Mädchen« und wird über Nacht berühmt. Die erste Prophezeiung der Wahrsagerin geht damit in Erfüllung.

Schon am nächsten Tag ist das geheimnisvolle Mädchen in aller Munde. Zeitungen drucken ihr Konterfei und PR-Berater belagern sie am Telefon. Von einem Unbekannten wird eine Million Dollar auf ihr Konto überwiesen, und damit trifft auch der zweite Teil der Weissagung ein. Susan bekommt Angst und würde am liebsten der Wahrsagerin die anonyme Million überweisen, damit keine weiteren Voraussagen in Erfüllung gehen. Ehe sie sich versieht, haben jedoch die Medien Besitz von ihr ergriffen. Filmstars, Rockgenies und die Shakespeare Company wollen mit ihr gemeinsam auf Sendung gehen, doch sie verkriecht sich in ihrem Bett, um dem verkündeten Schicksal zu entgehen. Clevere Fernsehleute machen daraus die Reality-Show »The Babe in Bed Forever«.

Susan Mantle will einfach nicht berühmt werden und wehrt sich gegen das Liebeswerben quotengieriger TV-Typen, spirituell erleuchteter Hollywood-Stars, Ex-Lover und angeblicher Freundinnen, die sich um sie versammeln. Je mehr sie sich dem Trubel zu entziehen versucht, desto mehr wird sie in den Mahlstrom hinein gezogen. Selbst verliebte Zyniker, Depressive und voll verblödete Typen geben sich die Tür in die Hand und lassen ein Bild vom Narrenhaus entstehen, das sich Fernsehen nennt.

Das Buch, dessen Titel im ersten Augenblick wie ein Kriminalroman wirkt, ist tatsächlich ein höchst verschachtelter Dialogroman mit Anspruch. Der gesamte Text besteht ausschließlich aus ständigen Telefonaten und Gesprächen mit Eltern, Freundinnen, Freunden, Managern und anderen Figuren. Abgesehen von der Kunstfertigkeit, mit der die Handlung entwickelt und erzählt wird, verlangt der Text vom Leser höchste Konzentration, um der Satire folgen zu können.


Genre: Romane
Illustrated by Kunstmann München

Pornostern

PornosternNamenlos jobbt ohne Erfolg und Anspruch in einer Versicherungsagentur und fristet ein eher erbärmliches Junggesellendasein. Lediglich Ex-Freundin Andrea dringt gelegentlich telefonisch zu ihm durch und erkundigt sich nach seinem Zustand. Ansonsten ist sein einziger Gesprächspartner ein kleiner braungrüner Kaktus, der aus einem Müllhaufen stammt. Diesen stacheligen Mitbewohner tauft er »Rod«, weil dies auf einem Etikett an dessen Unterseite steht.

Seine Zeit verbringt der Ich-Erzähler am liebsten vor dem Fernseher oder in seiner Stammkneipe »Peaches«. Dort verpasst er sich die tägliche Dröhnung. Eines eintönigen Tages lernt er einen Goldkettchenträger kennen, der ihm wie eine Mischung aus Zuhälter und Ramschkönig vorkommt. Der neue Bekannte entpuppt sich als Betreiber eines Pornolabels und bietet ihm einen Job an. Nach einem kurzen Disput zwischen seiner ständigen Trägheit und einer beklemmenden Ebbe des Kontostandes nimmt er das Angebot an und tritt seinen Dienst als Deckhengst des Filmchenmachers an. Künftig darf er willige Novizinnen vor der Kamera vögeln und wird dafür sogar noch gut bezahlt.

Skrupel sind ihm fremd, und über Geschmack macht er sich keine Gedanken. Besonderen Genuss bietet ihm lediglich ein Wiedersehen mit einer Beraterin einer Arbeitsvermittlung, der er nach Vollzug ins Gesicht spritzen und sagen darf, er habe jetzt den seiner Qualifikation entsprechenden Job gefunden.

In seiner neuen Tätigkeit geht er voll auf und findet dabei sogar zu einer eigenen Identität. Als Hommage an seinen Kaktus wählt er den Künstlernamen Rod Reptile. Regelmäßige Nasen Koks, die ihm seine neuen Arbeitsgeber versorgen, tragen dazu bei, sein Selbstbewusstsein zu stärken. Sein Geld trägt er weiterhin in seine Stammkneipe, in der er eines schönen Tages sogar seine Traumfrau kennen lernt. Mit der knackigen Jasmin ist er bald fest zusammen und genießt die Zweisamkeit.

Da er ahnt, dass seine neue Liebe wenig erbaut auf seine Erwerbstätigkeit reagieren würde, täuscht er sie mit Lügengeschichten. Wenn das Telefon klingelt, steht er weiterhin stets zur Verfügung, um neue Damen, wie die 24jährige Fitnesstrainerin Claudia, die »neue Herausforderungen« sucht und sich als Filmsternchen bewirbt, einem gründlichen Leistungstest zu unterziehen. So kommt es, wie es kommen muss: eines bösen Tages wirft Jasmin ihrem geliebten Rod eine DVD mit dem prosaischen Titel »Ehehuren«, in der er als Hauptdarsteller wirkt, vor die Füße und verlässt ihn tief enttäuscht.

Rod Reptile ist wieder mutterseelenallein und steigt noch tiefer ins Pornobusiness ein. Er träumt von einer Solokarriere mit professionellen Darstellerinnen und entwickelt sich allzeit bereit, immer bereit, zum Pornostern. Koks, Aufputschmittel, Alkohol und Potenzpillen helfen ihm, in jeder Situation als Mann zu bestehen. Dabei bricht er charakterlich immer tiefer ein und führt bald nur noch ein Leben auf Speed. Seine Auftraggeber lassen ihn fallen. Als eines schlimmen Tages zu allem Übel auch noch sein einziger Freund, der Kaktus Rod, wegen mangelnder Aufmerksamkeit sein Leben aushaucht, will er endgültig alles ändern. Er springt in einen Zug und folgt Jasmin. Ein Happy-End bleibt aus.

Strasser baut die Geschichte von Rod Reptile geschickt und nachvollziehbar auf. Im Dialog mit dem Kaktus bedient der 34-jährige Düsseldorfer Autor sich eines Kunstmittels, das literarische Qualität hat. Er erzählt seine Story in lakonisch-distanziertem Stil und verzichtet auf die klebrige Ausschmückung eines Soft-Pornos. Damit enttäuscht er vermutlich die Hoffnungen der Voyeure, die zu dem Buch greifen, weil sie hinter dem Titel eine saftige Sexstory wittern. »Pornostern« lüftet hingegen einen Zipfel des Vorhangs der Sexindustrie und liest sich als eigenwilliger und durchaus nachvollziehbarer Bericht.


Genre: Romane
Illustrated by Ubooks Diedorf

Sense

Kristof Kryszinksi erwacht nach durchzechter Nacht mit dröhnendem Schädel in seiner Matratzengruft neben einer Leiche. Der Tote ist der Automatenkönig Sascha, den der Privatdetektiv eigentlich gesund und munter ausfindig machen sollte. Die attraktive Gattin des Spielhöllenbetreibers hatte den Schnüffler angeheuert, weil Männe die Einnahmen nicht wie gewohnt brav daheim abgeliefert hatte sondern spurlos verschwand. Nun ist der Mann mausetot und liegt in seinem Blut. Kryzinski hat den lukrativen Auftrag ergo voll vor die Wand gefahren, und seine »Freunde« von der Bulleria halten ihn zu allem Überfluss auch noch für den Mörder.

Vor diesem Hintergrund geht der vollkommen heruntergekommene Detektiv in den düstersten Ecken zwischen Essen, Bochum und Gelsenkirchen auf die Suche nach seinem Alibi und dem Hergang des Geschehens. Kryszinski geht nicht wirklich auf die Suche. Was er unter Suche versteht, ist ein chaotisches Herumstöbern mit dem Ziel, etwas aufzuspüren oder aufzuscheuchen, das ihn seiner Sache näher bringt. Er schwört dabei auf seinen »Instinkt«. Hat er aber erst einmal eine Fährte aufgenommen, dann verstärkt er den Druck durch sofortiges Hinterherhetzen. Bleibt das ohne Erfolg, kehrt er zurück zum Ausgangspunkt und spickt das Terrain mit Lockmitteln, Ködern und Fallen. Seine Technik nennt er »Jagd«.

Das »private eye« bewegt sich bevorzugt im Rotlichtmilieu zwischen seiner Stammkneipe »Endstation«, Abwrackplätzen und Lasterhöhlen. Dabei versucht er, eines der letzten Abenteuer des Alltags zu bestehen und 24 Stunden ohne Alkohol und Koks zu bleiben. Das fällt ihm spürbar schwer, und so sieht er wie etwas aus, das ein Hund im Wald gefunden, runter geschlungen und dann daheim aufs Kanapee gewürgt hat. Bevorzugt schleudert er in betagten japanischen Spritfressern durch die Landschaft und schafft es durch seine Auftritte, eine gehörige Portion Unruhe in die Halbwelt des Pütts zu bringen. Farbenprächtige Schlägereien in Kneipen und Clubs, wilde Verfolgungsjagden über Stock und Stein in gestohlenen Autos sowie wüste Sauf- und Drogenexzesse reihen sich wie Perlen auf eine Schnur und liefern alles, was ein Krimi bieten sollte.

Juretzka serviert eine brillante Kombination von Wortwitz und Sprachgewalt Die furztrockene, mit schwarzem Humor gewürzte Sprache des Kohlenpott-Chandlers macht es zu einem großen Vergnügen, diesen chaotischen Krimi zu lesen. Es handelt sich dabei um den Auftakt einer kantigen Detektiv-Reihe um den Mühlheimer Antihelden Kryszinski, die zwischenzeitlich eine Reihe Preise bunkern konnte und eine wachsende Zahl von Fans findet. Dieser Roman ist großes Kino!

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Ich bin schizophren und es geht mir allen gut

Bernemann wird alt. Inzwischen hat er die 30 deutlich überschritten und ist immer noch auf der Suche nach sich selbst. Als Autor möchte er weder schubladisierbar noch schubladesk sein und behauptet, seine Literatur führe eine Art Angriffskrieg. Davon ist in seiner nunmehr vierten Buchveröffentlichung leider wenig zu spüren.

Ubooks hat seinen bisher einzigen Bestseller-Autor dazu verdammt, Neues auf den Markt zu werfen. So greift der geforderte Autor in die Ablage und zaubert einige halbgare Texte hervor, um sein Publikum zu beglücken. Er nennt sie »persönlich«. Alle, die seine Texte kennen, meint Bernemann, hielten ihn für einen Depressiven, manisch Fingernägel kauenden und ewig beunruhigten Alptraumtänzer, einen weit draußen Stehenden, der so far out of space zu sein scheint, dass er »nur an Weltraumbahnhöfen verweltreist«. Tatsächlich will er ein »Kopfkrieg-Youth« sein. »Ich bin ein Modeschmuckgeschäft, in dem es lediglich Assoziationsketten gibt«, brüllt er die Alleen entlang, wenn er zwischen Leipzig, Herne und Trier auf die Suche nach dem Leser geht.

Zum Beweis publiziert er einige kurze Geschichten im Genre Fuckrockblutkotzeliteratur. Das Material füllt kein Buch, Bernemann greift zur Technik, die er schon in seinem Erstling »Ich hab die Unschuld kotzen sehen« anwandte: er schiebt dreißig Seiten Gedichte und Songtexte ein, die er »lyrische Manifeste« nennt. Und tatsächlich: mehr als Assoziationsketten bietet er nicht.

Seiner Zielgruppe, der »schwarzen« Subkultur im Rahmen der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung, mag das vielleicht genügen. Mit Hilfe eines Lektors, der sein Potential fordert, könnte aus ihm jedoch deutlich mehr werden. Geschichten wie »Der Campingstuhl« jedenfalls zeigen das literarische Vermögen des Autors: ein 18jähriges Mädchen zieht mit einem frisch erworbenen Sitzmöbel auf ein wildes Rockfestival und definiert sich darüber. Auf diesem Klappstuhl sitzt sie als ultimativ Gerockte und betrachtet das Universum, das sich ihr bald in Form von Bier, Schnaps, Haschisch und fröhlichen Freiern vorstellt und findet sich dabei maximal cool und extravagant.

Die eindrucksvolle Beschreibung der Fete rund um das Klappmöbel beweist auch, dass sich im Selbstverständnis junger Leute und ihrer Erlebniswelt in den zurück liegenden 30 Jahren wenig geändert hat und auch die Subkultur immer noch in ihrem Wesen beständig ist. Insofern ist die Lektüre dieses literarischen Kleinods auch für die Altersgruppe 30+ durchaus geeignet. Ob eine Story allerdings genügt, das Buch zu kaufen, mag jeder selbst entscheiden.


Genre: Underground
Illustrated by Ubooks Diedorf

Hä??

Eine aufgebitchte Atze mit Achselkatze, Arschkordel und Arschvignette säuft Dackelwichse am Glutamat-Palast, während ihr Bonsaikeimling vor einem Komposthaufen herum bounct, statt zum Brettergymnasium zu gehen. Da überreicht ihr ein bratziger Hunger-Harry im Asselanzug mit Butterkopf, der frisch aus der Fantafarm kommt, einen Heuchlerbesen …

Keine Peilung, Alter?

Wieder mal nix gerafft?

Dann wird es Zeit für die Anschaffung eines Lexikons der Jugendsprache, das der Verlag Langenscheidt soeben heraus gebracht hat.

500 Wörter und Sprüche aus der deutschen Jugendsprache wurden zusammen getragen und gleich noch ins britische und amerikanische Englisch, ins Italienische, Spanische und Französische übersetzt. Nachdem gerade die »Gammelfleischparty« als Vergnügung der Über-30jährigen zum Jugendwort des Jahres 2008 ernannt wurde, kommt dieses kleine Büchlein gerade recht.

Wer es braucht? Nun, vielleicht derjenige, der das obige Textbeispiel übersetzen möchte.

Und das bedeuten die mit Hilfe des Lexikons verfassten Eingangszeilen auf Hochdeutsch:

Eine aufgetakelte Frau mit starker Achselbehaarung, Stringtanga und Steisstattoo trinkt Eierlikör am Schnellimbiss, während ihr Kind vor einem Bioladen herum springt, statt die Sonderschule zu besuchen. Da überreicht ihr ein dümmlich wirkender magerer Mann im Trainingsanzug mit angeklatschten Haaren, der gerade aus der Entziehungsklinik kommt, einen Blumenstrauß …


Genre: Wörterbücher
Illustrated by Langenscheidt Berlin

Führer in die Innere Mongolei

Der Ich-Erzähler erbt von einem Freund, der sich aus dem Leben verabschiedet, einen Job: Er soll eine Reportage über die Volksrepublik Mongolei verfassen. Dieser Auftrag wurde von einer Zeitschrift vergeben, deren erste Nummer allerdings erst in ein paar Jahren erscheinen soll, sofern sich Geldgeber finden, die das Erscheinen des Blattes finanzieren. Da eine Arbeit aber nun einmal erledigt werden muss, so sinnlos sie auch scheint, reist der Autor aus Berufsethos nach Ulan Bator. Dort strandet er im Hotel »Dschingis Khan«, bleibt an der Bar kleben und pendelt zwischen Hotel und dem Bistro »Stern des Ostens«.

Absurde Typen kreuzen seinen Weg: ein holländischer Bischof, der trotz vieler Glaubenszweifel im nahe gelegenen Bordell missioniert; ein amerikanischer Korrespondent, der für ein längst eingestelltes Bostoner Abendblatt schreibt, ein Lama, der als Spitzel zum KGB übergewechselt ist, und ein angeblicher Doktor, der zu Seancen auf sein Hotelzimmer einlädt. Und während der Chefmeteorologe des Landes wegen einer falschen Voraussage hingerichtet werden soll, sitzt die britische Schauspielerin Charlotte Rampling in der Lobby, blättert in der »Times« und trinkt Cappuccino. Schließlich stößt noch ein gewisser Herr Mercier hinzu, jener alte Wüstling, der Sylvia Kristel in den Softpornoreihe »Emmanuelle« gegen dickes Honorar in die orientalischen Finessen der Fleischeslust einführte. Der Kerl war in Wirklichkeit schon über fünf Jahre tot, doch das kümmert wenig in der Mongolei, wo man selbst Kadavern mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet.

Der Autor des geplanten Reiseführers würdigt ausführlich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, die ihm bereits in den ersten Augenblicken seiner Mongolei-Visite fasziniert. Dabei erkennt er, dass das Fiktive grundsätzlich dadurch begünstigt ist, dass es überzeugender und in jedem Sinne der Wahrheit näher ist. So wird sein Bericht zu einer Parodie über die Auswüchse des Sozialismus bei den Erben Dschingis Khans, die sich so oder ähnlich auch in Basaras Heimat Jugoslawien abspielten. Dabei nähert er sich unvermeidlich auch der eigenen Biographie und stößt inmitten der dicken Schlammablagerungen seiner Seele auf ein paar Goldkörner.

Aber ist der Autor überhaupt in der Mongolei oder hält er sich lediglich in seinem Wohnzimmer auf und träumt ein wenig, während er sich betrinkt? Denn im Alkohol erkennt er das günstigste Mittel, um auszuschwärmen und die dunkelsten Winkel übel riechender Seelen zu erforschen, Schmutz ans Tageslicht zu fördern und die Vernunft vollends zu zerstören. Oder aber, um die Zeit anzuhalten. Denn Basara ist vom Phänomen der Zeit fasziniert. Immer wieder wirft er einen Blick auf die nächste Uhr, um zu sehen, ob die Zeit stehen bleibt, ob sie langsamer wird und allmählich ihre wahre Geschwindigkeit erreicht, ob sie ein kontinuierlicher Fluss oder ein wilder Sturzbach ist, und ob man vielleicht sogar durch sie hindurch gehen kann.

Der bereits 1992 entstandene Text des serbischen Autors ist absurd, verrückt, anarchistisch und genial zugleich. Idee und Anlage des Romans entspricht den Prinzipien des Gonzo-Journalismus. Basara ergeht sich in Aus- und Abschweifungen aller Art und taucht zugleich in philosophische Tiefen: denn der inneren Mongolei in uns entkommen wir nur schwer, es sei denn in Kunst und Literatur.


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

In 80 Tagen um die Welt

»Le tour du monde en quatre-vingts jours«, »Reise um die Erde in 80 Tagen« nannte Jules Verne seinen 1873 veröffentlichten Erfolgsroman. Darin beschreibt er die höchst abenteuerliche Weltreise eines reichen englischen Exzentrikers namens Phileas Fogg sowie seinen Dieners Passepartout. Der Journalist Helge Timmerberg reist 135 Jahre nach Vernes großem Wurf ebenfalls »In 80 Tagen um die Welt«, wobei ihm wesentlich schnellere Verkehrsmittel zur Verfügung standen als dem leidenschaftlichen Whist-Spieler Phileas Fogg. Während Fogg noch sein halbes Vermögen in bar mit sich führte, wurde Timmerbergs Reise durch ein gut gefülltes Spesenkonto abgefedert, das weltweit verfügbar ist.

Der Autor zischt per ICE mit 230 Stundenkilometern von Berlin nach München, wo er in einer Wohnzimmer-Kneipe im Bahnhofsviertel landet, in der sich einsame Männer beim Weizen trösten. Er reist weiter nach Venedig und begegnet bereits am Bahnhof einer Prozession von tausenden Touristen mit Masken, spitzen Nasen und schwarzen Umhängen. Venedig feiert Karneval, und wer so bescheuert ist, ausgerechnet in diesem Trubel den Canale Grande sehen zu wollen, der zahlt für das einzige freie Zimmer im »Marco Polo« eben 330 Euronen, selbstverständlich ohne Frühstück. Irgendwie fällt unserem Weltreisenden auch hier nichts Besseres ein, als die nächste Trinkhalle aufzusuchen, um sich die Kante zu geben. Ihm geht es dabei um »das disziplinierte, konzentrierte, mathematische Besaufen«.

Die dritte Nacht seiner Weltreise verbringt Timmerberg in Triest, und – raten Sie mal – wo er landet? Na klar, in einem kleinen Weinlokal, an den Stehtischen für Raucher. Die Welt in achtzig Tagen zu umreisen verlangt nicht, wie zu Jules Vernes Zeiten, permanentes, pausenloses und zielstrebiges Voraneilen. Heute braucht es das glatte Gegenteil: Trinkfestigkeit, Drogenerfahrung und ein gewisses Klebenbleiben, eine gewisse Unentschlossenheit. Als unentschlossen erweist sich der Autor immer wieder, dies ist sein deutlichster Charakterzug. Später, denn hier soll nicht jede Station erwähnt werden, als er in Bombay, das heute Mumbai heißt, weilt, überlegt er beispielsweise, mit welchem Verkehrsmittel er sich weiter bewegen will. Jules Verne ließ seinen Helden mit dem Zug von Bombay nach Kalkutta reisen, und der hat während dieser Fahrt die Frau seines Lebens getroffen. Die Frau des Lebens, sinniert Timmerberg, ist keine schlechte Vision, aber dafür zweiunddreißig Stunden mit dem indischen Zug?

Nun geht eine Weltreise in heutiger Zeit dank moderner Verkehrsmittel sehr viel unkomplizierter als anno Verne. Und dennoch hat Helge immer wieder Entscheidungsschwierigkeiten, die sein Wesen auszumachen scheinen. Der Reisende, der noch die Nachwehen der Hippie-Zeit in sich spürt, wendet sich an einen Guru um Rat. Schließlich bereiste Timmerberg bereits in der Blütezeit der Gurus Indien und kennt sich nach eigenem Bekunden auf diesem Gebiet aus. Jedoch fehlt die Antwort des Meisters nicht zur Zufriedenheit des Reisenden aus, denn letztlich empfiehlt er ihm, eine Münze zu werfen. So kann es Weltreisenden ergehen! – In dem Augenblick fällt dem Rezensenten ein, dass er selbst eine solche Entscheidermünze in seinem Schreibtisch in Griffnähe hat. Diese Münze, ein Geschenk einstiger Kollegen, sollte ihm helfen, grundsätzliche Entscheidungen seines Lebens zu fällen, da er zu jener Spezies gehört, und hier entsteht eine Gemeinsamkeit mit Timmerberg, die unfähig sind, sich zu entschließen.

Ansonsten erweist sich Timmerberg als arrivierter Althippie, der mit gefülltem Säckel nicht mehr in Hauseingängen oder der Bahnhofsmission kampieren und per Anhalter durch die Galaxis trampen muss. Er genießt den Luxus der Sterne-Hotels und lässt sich vor Ort gern mit dem Taxi chauffieren. Bedrängt ihn ausnahmsweise das nackte Leben, wie beispielsweise in Shanghai in Gestalt besonders aggressiver Bettler, rettet er sich vor dem Mob in eine Droschke und braust davon. Sozialkritik ist nicht das Thema des Buches.

Immerhin schafft es der Autor, seiner Weltreise eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, die den Leser in Bann schlägt. Er unterstützt dies durch eine flotte Sprache sowie milieudichte Schilderungen über Drogenexzesse. Hier spürt der Leser, dass Timmerberg life dabei war und sein Wagemut ihn bevorzugt ins Land der Kopfreisen führte. Er kennt die Illusionsromantik des Reisens, er predigt Toleranz und fühlt sich schließlich doch am wohlsten dort, wo er startete und wieder ankommt: im multikulturell gefärbten Berlin.

»In 80 Tagen um die Welt« ist lesenswert für den gestandenen Reisenden, der sich an dies oder jenes erinnern möchte. Es ist kein Reiseführer, und es sucht auch nicht Erkenntnisse in Slums und Absteigen, wie sie von einem Journalisten vielleicht erwartet werden. Das Buch ist amüsant, und der Autor ist fraglos weit herumgekommen. Die Freude am Reisen, mit Ausnahme des Abstechers nach Mexiko-Stadt, scheint ihm dabei jedoch mit den Jahren verloren gegangen zu sein.


Genre: Reportagen
Illustrated by Rowohlt